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Barbara Wittmann | BEDEUTUNGSVOLLE KRITZELEI. DIE KINDERZEICHNUNG IM PSYCHOLOGISCHEN EXPERIMENT, 1880–1950


Die Etablierung der Kinder- und Entwicklungspsychologie um 1900 wurde von Techniken der Beobachtung vollzogen, die die wissenschaftliche Aufmerksamkeit von der Erziehung und Sorge um das Kind abkoppelten. Eine dieser Techniken fanden Psychologen und Psychoanalytiker wie James Mark Baldwin, James Sully, William Stern, David Katz, Karl Bühler, Florence Goodenough, Sophie Morgenstern und Jean Piaget in der Experimentalisierung und Analyse der Kinderzeichnung. Sie wurde dabei zumeist als ein Medium verstanden, das Wahrnehmungen, Begabungen und Konflikte dokumentiert, die das Kind selbst (noch) nicht sprachlich artikulieren kann. Mehr noch als das Spiel und die Phantasie- und Lügengeschichten sollte die Zeichnung Auskunft geben über Intelligenz und Raumwahrnehmung, über psychische Disposition und psychoanalytische Ätiologie, über soziale Integration und Handlungsfähigkeit der Kinder.

Die Entdeckung und Emanzipation der Kinderzeichnung als Quelle des kindlichen Subjekts ging mit der Ausbildung eigener Testverfahren und Experimentalpraktiken einher, die der Prozessualität des Zeichenakts und der permanenten Übertragung zwischen beobachtendem Wissenschaftler und beobachtetem Kind entgegen zu wirken bzw. gerecht zu werden versuchten. Die psychologischen Tests und Versuchsanordnungen rahmten und stabilisierten die kindliche Kritzelei, sie isolierten bestimmte Merkmale und wiederholten einzelne Handlungsabläufe. Im Laufe ihrer Etablierung als Instrument legte sich die Forschung die Kinderzeichnung dabei als methodisches Vorgehen zurecht, das gerade in seiner Regelhaftigkeit psychische und neurologische Dysfunktionen sichtbar machen kann. Daß es sich dabei keineswegs um einen Widerspruch, sondern um raffiniertes Kalkül handelt, ist nur zu erschließen, wenn man die Kinderzeichnung als Verfahren versteht, d. h. als regelhaften Ablauf, der sich von der Kontingenz und den Überraschungen dessen, was sich in seinem Rahmen ereignet, ablenken und belehren läßt.

In der diagnostischen Verwertung von Kinderzeichnungen liegt sicherlich ein Sonderfall des Zeichnens in den Wissenschaften vor, der sich phänomenal und funktional nicht unmittelbar mit Praktiken der Aufzeichnung in der Naturforschung vergleichen läßt. Während im Fall des Naturstudiums und der explorativen Skizze der Wissenschaftler selbst, ein von ihm instruierter Künstler oder ein technischer Assistent ans Werk gehen, zeichnet sich in der Praxis der psychologischen Diagnostik das Forschungsobjekt gleichsam selbst. Doch von einem unmittelbaren ›Selbstportrait‹ sollte auch in diesem Kontext nicht ausgegangen werden, weil die diagnostische Zeichnung nicht an der Konstitution von Subjektivität, sondern an ihrer Objektivierung und Vermittlung arbeitet. Die Fallstudie zum diagnostischen Zeichnen bietet deshalb die Möglichkeit, exemplarisch die Bedingungen und Methoden zu untersuchen, die ihre Wirksamkeit entfalten müssen, damit das Zeichnen als (expressive) Alltagspraxis in ein wissenschaftliches Instrument ›umgewandelt‹ werden kann.


[BILDNACHWEIS]
Kommentierte Kinderzeichnung, 1897. University of London, Institute of Education, Archiv