language

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Stephan Kammer | SCHRIFT ALS SPUR UND AUSDRUCK. DAS GRAPHOLOGISCHE WISSEN (1770–1950)


Im Akt des Schreibens zeigt sich alles, was man vom Menschen, der schreibt, wissen kann – so ließe sich das zentrale epistemologische Versprechen des graphologischen Diskurses seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zuspitzen. Die graphologischen Modelle treten mit dem Anspruch einer Wissensform an, die zum einen an die Dispositive der Autographie gekoppelt ist und mit den von diesen Dispositiven und von deren Geschichte aufgeworfenen Effekten interagiert. Diese Wissensform verspricht zum anderen die medientechnische Eigenlogiken des Schreibens von Hand zu meistern. Schließlich muß sie ihren Status von Anbeginn stets neu behaupten und verteidigen, obwohl sie mit den gleichzeitigen Programmen, die schreibende Produktivität mit poetologischen und subjektphilosophischen Selbst-Entwürfen korrelieren, vollkommen zu konvergieren scheint. Trotz ihrer letztlich einfachen und im kulturellen Voraussetzungsgefüge der Moderne nicht fernliegenden Grundannahme, über die Spuren des autographen Schreibakts auf das schreibende Individuum zugreifen zu können, hat die ›Graphologie‹, die ihren Namen erst gute 100 Jahre nach der Begründung ihres Erkenntnisdispositivs mit Michons Wiederaufnahme erhalten hat, zwischen dem Ende des 18. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts eine diskontinuierliche Geschichte – die noch ungeschriebene Geschichte eines ›obskuren‹, hybriden Diskurses, die nicht vom (gar konsistenten oder konsequenten) ›Innenleben‹ einer Disziplin zeugen kann. In ihr spiegeln sich vielmehr die Verschiebungen und Brüche, von denen die mediengebundenen Paradigmen sowie die subjekttheoretischen oder poetologischen Bezugsmodelle des Wissens vom Menschen und seiner Schrift gezeichnet sind.

Gerade deswegen erlaubt es eine Diskursgeschichte des graphologischen Wissens, die Argumente, die Individuum und Schrift zusammenführen, aus einer neuen Perspektive zu formulieren: mit Blick auf die zentrale Differenz der Bezugsmodelle, die das moderne Wissen vom Menschen regeln – Identifizierung und Identität. Das Forschungsvorhaben richtet sich bei dieser Rekonstruktion des Verhältnisses von Individualität und Handschriftlichkeit an drei methodischen Schwerpunkten aus:

1. an der theoretischen Profilierung der genannten Bezugsmodelle, die ›Identifizierung‹ und ›Identität‹ als Konzepte und Fluchtpunkte des neuzeitlichen Wissens vom Menschen setzen;

2. an der wissensgeschichtlichen Analyse der Anfänge, der Verschiebungen sowie der konjunkturellen Schwankungen des graphologischen Wissens im engeren Sinne;

3. an den kulturhistorischen Interferenzen, die das graphologische Wissen mit ästhetischen, gesellschaftlichen und anderen anthropologischen Wissenspraktiken vernetzen.

Der graphologische Diskurs der Moderne hat seine Gründungsszene in Johann Caspar Lavaters physiognomischem Projekt, das vom Konzept einer ›Ausdruckseinheit‹ des Menschen ausgeht und im Zuge dieser Konzeptualisierung das Wissen vom Menschen in den beiden medialen Konfigurationen der Profilsilhouette und der Handschrift fixier  und lesbar machen will. Eine auf die Funktion der ›Autographie‹ ausgerichtete Rekonstruktion dieser Begründung bildet den ersten thematischen Fokus des Forschungsvorhabens. Zweitens gilt es, die Verschiebungen zu analysieren, denen das graphologische Wissen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterliegt. Man könnte diesen Zeitraum durchaus als ›Latenzphase‹ bezeichnen, in der die Diskurse der Graphologie selbst zwar kaum von einschneidenden Veränderungen zeugen, in der sich aber das anthropologische Gefüge abzuzeichnen beginnt, das die Reaktualisierung des graphologischen Wissens in der zweiten Jahrhunderthälfte prägt: Die Handschrift wird zum Objekt nicht nur von ausdrucks  und identitätsbezogenen Subjekthermeneutiken, sondern auch von ›Spurensicherungsverfahren‹, die registrierend und technisch auf Individualität zugreifen wollen. Mit diesen beiden Formen der Inanspruchnahme sieht sich die Hochkonjunktur graphologischer Diskurse und Praktiken nach ca. 1860 konfrontiert, die den dritten thematischen Schwerpunkt der Untersuchung stellt. Im diesem Zeitraum sind die Debatten um Status und Erkenntnisfähigkeit, wissenschaftliche Legitimität und kulturellen Nutzwert der Graphologie zweifellos am intensivsten geführt worden. Spätestens zur Mitte des 20. Jahrhunderts schließlich verpflichtet sich das graphologische Wissen auch terminologisch definitiv den konzeptuell unterschiedlichen Zielsetzungen und teilt sich endgültig in eine identitätsorientierte ›Schriftpsychologie‹ und eine identifizierungstechnische ›Schriftvergleichung‹.