Spätestens seit der Mitte der 1990er Jahre ist die Zeichnung, nach ihrer experimentellen, prozessorientierten Diskursivierung im Zuge von Minimal, Concept und Performance, erneut eines der bevorzugten Medien der jungen Künstlergeneration. Unübersehbar besetzen zeichnerische Arbeiten allerorten Ausstellungsräume und sind aus dem internationalen Ausstellungsdisplay nicht mehr wegzudenken. Was aber zeichnet die Zeichnung in den letzten beiden Jahrzehnten aus und macht sie für Produzenten wie Rezipienten gleichermaßen attraktiv?
Zunächst läßt sich eine Präsenz durchaus verschiedener Zeichnungsansätze beobachten, wobei eine ausgestellt reflexive Haltung und eine entschiedene Absetzung von Konzepten des Modernismus für die meisten Arbeiten bestimmend ist. Dies bedeutet eine grundlegende Verschiebung innerhalb der Zeichnungspraktiken und dem künstlerischem Selbstverständnis im Vergleich mit vorangegangenen Konzeptionen des Zeichnens. Tatsächlich scheinen herkömmliche Theorien der Zeichnung, die diese entweder als Träger einer künstlerischen Idee – als Gedankenkonzentrat – begriffen oder Zeichnung als selbstreferentiellen wie unmittelbaren Ausdruck des Künstlersubjekts deuteten, mehr als ungeeignet, die Bandbreite der zeitgenössischen Zeichnung zu beschreiben. Diese beinhaltet szientifische Aufzeichnungsakte, die wissenschaftliche Versuchsanordnungen und Recherchen in die Logik der künstlerischen Zeichnung übersetzen, wie dies bei Mark Dion oder Mark Lombardi der Fall ist, ebenso wie konstruktiv-rekonstruierende Verfahren als Operation der Wirklichkeitsaneignung wie sie die Arbeiten von Silke Schatz bestimmen. Auch die Rückbindung der Zeichnung an eine intensive Physikalität, an ein manisches Spurenerzeugen als Selbstzeugung wie in Martin Kippenbergers Serie der Hotelzeichnungen spielt eine Rolle.
Für das verstärkte Auftreten der Zeichnung ist nicht nur ihre spezifische papierne Oberfläche als Widerstandsraum im Zeitalter der elektronischen Medien in Anschlag zu bringen, sondern den Papierarbeiten eignet ein erst noch näher zu beschreibender besonderer erkenntnistheoretischer Status, der nicht zuletzt in ihrer Materialität zu verorten ist. Die Handzeichnung als Erkenntnismittel basiert auf einem ganzen Setting von Voraussetzungen und Vorkehrungen, zu denen nicht nur der Kopf respektive das Bewußtsein des Künstlers und das wie auch immer bezeichnete oder voll gekritzelte Papier als Produkt zu zählen sind. Im Gegenteil, es gilt, den hochkomplexen Vorgang des Zeichnens, dessen Vollzug als Überschuß der Repräsentation auf der Oberfläche des Bildträgers sichtbar stehen bleibt, als diffiziles Relationsgefüge zwischen Gerätschaften (Stift), Materialien (Papier), Körper (Hand, Wahrnehmung) und Bewußtsein in die Zeichnung zurückzudenken. Dieser Ebene des Zeichnungsprozesses soll deswegen besondere Aufmerksamkeit gelten, weil hier Zeichnung als Handlung beschreibbar wird: als ein Akt der Aufzeichnung, der ein Ereignis und eine Entscheidung ist und der »inaugural blankness« (Norman Bryson) einen Werkprozess einzeichnet.
Welche Form von Aufzeichnungssystemen wird entwickelt und für welche Sorte von Wissensproduktion? Denn vermutbar werden jeweils bestimmte Leistungsfähigkeiten von Zeichnung für spezifische Darstellungsproblematiken eingesetzt. Aus diesem Grund kann davon ausgegangen werden, daß bestimmte Verfahrensregelungen das Zeichnen als Entscheidungsprämissen begleiten. Gibt es also eine Logik des Verfahrens in der zeitgenössischen Zeichnung?
[BILDNACHWEIS]
Silke Schatz: Konzerthaus Erdgeschoß, 1999. Blei- und Farbstifte auf Papier