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Karin Krauthausen | PAUL VALÉRYS CAHIERS (1894–1945) – ZEICHNEN UND SCHREIBEN ALS PRAXIS DES DENKENS


Die Wirkung des französischen Schriftstellers und Dichters Paul Valéry reicht weit über die Literatur hinaus: Seine Schriften beschäftigen sich mit Fragen und Entdeckungen der Künste und der Naturwissenschaften, reflektieren über politische Entwicklungen und historische Ereignisse.
Am deutlichsten aber zeigt sich Valérys umfassende Neugier und geistige Beweglichkeit in seinen nachgelassenen Arbeitsheften,
den 261 Cahiers, in denen er unablässig neue Bezüge zwischen den verschiedenen Wissensbereichen herstellt. Blättert man durch diese Arbeitshefte, dann erstaunt das dichte und vielfältige Ineinander aus Textfragmenten, Zeichnungen und Formeln. Die Schrift ist nicht rein sukzessiv, sondern auch simultan oder überlappend auf den Seiten angeordnet, und sie differenziert sich in verschiedene »Formate«, wie Listen, philosophische oder wissenschaftliche Aperçus, analytische Passagen, literarische Fragmente und Kommentare zu den Zeichnungen. Veranschaulichende Skizzen wechseln mit assoziativen zeichnerischen Gefügen und geometrischen Schemata. Und zwischen all dem schnelle Kritzeleien – Strichmännchen, Spiralen, Linienfelder.

Die Hefte Valérys sind immer wieder der Ort einer Aneignung mathematischen und physikalischen Wissens. Die Formeln und wissenschaftlichen Zeichnungen zeigen – gerade in den ersten Jahren der Cahiers – ein Nachahmen von und Sich-Einüben in Denk- und Aufzeichnungskonventionen der Wissenschaften. Doch nach und nach verwandelt sich das Angeeignete und wird Ausdruck einer »eigenen« Praxis, die der Analyse des Geistes gewidmet ist. Valérys Arbeitsverfahren lassen sich nur im Horizont seiner  Ästhetik verstehen, die daher auch in die Untersuchung der wissenschaftlichen Zeichnungen in den Cahiers miteinbezogen werden muß. In seinen ästhetischen Schriften entwirft Valéry – neben seiner Ausrichtung auf eine rigide Arbeit an der Form – eine prozessuale Ästhetik, die die Abgeschlossenheit des Kunstwerks in zeitlicher wie in materialer Hinsicht auflöst. Was hier in den Vordergrund tritt, ist der Entwurfscharakter des Kunstwerks, sein Status als konkretes Bruchstück aus dem »Innenleben« des Künstlers. Eine solche an mentale und körperliche Prozesse gebundene Ästhetik und das Beharren auf der Vorläufigkeit der Werke unterläuft dabei letztlich die historische Auseinanderentwicklung von Künsten und Wissenschaften. Tatsächlich findet man in Valérys Aussagen zur Wissenschaft eine ähnliche Konzentration auf den Prozeß der Hervorbringung von Ideen und eine Vernachlässigung der Ergebnisse. Auch die Wissenschaften führt er auf kaum klassifizierbare, offene Entwurfsprozesse zurück. Die Konsequenzen dieser Position Valérys zeigen sich paradigmatisch in der Praxis seiner Cahiers. Die Hefte sind der Ort einer Erforschung der Funktionen des Geistes, und sie sind dies in praktisch-performativer wie in theoretischer Hinsicht: die Cahiers konstituieren sich als Aufzeichnungen einer Selbstbeobachtung, die das eigene nervöse zerebrale Oszillieren protokolliert und analysiert.

Form und Inhalt der Cahiers sind über die bereits beschriebenen Aspekte hinaus zusammenzudenken. Valéry löst die Differenz zwischen Künsten und Wissenschaften auch dahingehend auf, daß der Wissenschaft kein besonderes Verhältnis zu Wahrheit oder Faktizität mehr zugestanden wird. Künste und Wissenschaften können Effekte im Realen haben, doch grundsätzlich sind auch die Wissenschaften für Valéry künstliche Regelwerke, sie sind »Sprachen«, Konvention und in diesem Sinne: Ästhetik. Insofern kann Valéry vom »Stil« einzelner Wissenschaftler sprechen und seine Cahiers in das »Genre« Wissenschaft einordnen. Die offensichtliche Vielgestaltigkeit der Cahiers und die sie begründende Spannung zwischen Kunst und Wissenschaft wird durch ein subtiles Netz aus Formaten und Konventionen unterlaufen oder ergänzt, das zu untersuchen sein wird.


[BILDNACHWEIS]
Paul Valéry: Journal de bord. Bibliothèque Nationale de France. © Martine Boivin-Champeaux