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Christoph Hoffmann | SCHRIFTFORMEN DES FORSCHENS


In Wissenschaftsgeschichte und -theorie bilden Schriftformen des Forschens schon seit geraumer Zeit die Quellenbasis für historisch-theoretische Fallstudien, die ausgehend von Laborjournalen, Briefwechseln, Notizbüchern und anderen schriftlichen Hinterlassenschaften des Forschungsbetriebs die Rekonstruktion wissenschaftlicher Unternehmungen betreiben. Solche Studien sind jedoch vorwiegend an den schriftlich fixierten wissenschaftlichen Aktivitäten interessiert, während die Aufzeichnungen als solche nur in Blick rücken, wenn sie die Auswertung behindern – etwa durch Auslassungen. Die Untersuchung solcher Schriftformen nach ihrer eigenen Leistung beginnt entsprechend damit, diesen Widerstand positiv zu wenden. Nicht die Gedanken und Handlungen, die sich aus den Papieren ableiten lassen, dominieren dann unsere Aufmerksamkeit, sondern die Schreibvorgänge auf der Oberfläche der Seiten. Um diesen Regelmäßigkeiten und damit einem Begriff von Schreiben als Verfahren der Forschung näher zu kommen, sollen drei Leistungen solcher Vorgänge näher untersucht werden. Heuristisch grob kann zwischen Schriftformen unterschieden werden, die sich in Operationen der Zusammenstellung ausführen (Liste, Tabelle, Katalog, Synopse), anderen, in denen primäre Aufzeichnungen stattfinden (Beobachtungsjournale, Protokolle, aber auch Exzerpte), und solchen, die Prozesse der Durcharbeitung unterhalten (Gliederungsschemata, repetitive Notizen, aber auch Randbemerkungen in Büchern). Diese Leistungen sollen allerdings nicht je für sich untersucht werden, sondern im Zusammenhang zweier spezifischer materieller Träger von Schreibvorgängen: dem Notizbuch und dem Sektionsprotokoll.

Für die Untersuchung von Notizbüchern wird das Schwergewicht auf Aufzeichnungen liegen, die zwischen 1870 und 1930 entstanden sind; also in einer Zeitspanne, in der Schreiben bereits mit technischen Aufzeichnungsverfahren konkurriert. Die Materialgrundlage bilden Notizbücher des Physikers und Wissenschaftstheoretikers Ernst Mach sowie voraussichtlich des Biologen Karl von Frisch. Zum besseren Verständnis ihrer Eigentümlichkeiten sollen Notizbücher von Schriftstellern und Philosophen, gedacht ist an die Hefte Friedrich Nietzsches und Robert Musils, vergleichend hinzugezogen werden.

Drei Merkmale bestimmen das Schreiben im Notizbuch: die Mobilisierung der Schreibfläche (das Notizbuch soll an jeden beliebigen Ort mitgenommen werden können), in Abhängigkeit hierzu die Limitierung der Schreibfläche (das Format des Notizbuchs hat sich nach seiner Handlichkeit zu richten) und der bedeutungsoffene Zusammenhalt der Notate (in der Regel ist die Kohärenz der Notate in einem Notizbuch vorerst eine rein formale, ausschließlich durch Einband und Bindung garantierte). Unterstrichen wird damit, daß wir es beim epistemischen Schreiben niemals mit einem ›freien Schreiben‹ zu tun haben, das den Inspirationen der Akteure seinen Lauf läßt. Im Gegenteil gilt auch hier, daß sich Schreiben stets im Rahmen einer »Schreibszene« abspielt (Rüdiger Campe/Martin Stingelin), die durch Semantik, Instrumentalität und Körperlichkeit des Schreibens strukturiert wird – und, wie wir meinen, auch die schriftlichen Verfahrensweisen umfaßt, die jeweils zur Ausführung kommen.

Bei der Untersuchung von Sektionsprotokollen werden zwei Bestände aus der Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts (ca. 1900–1930) ausgewertet werden, die aus der Sektionstätigkeit an den Pathologischen Instituten des Westend-Krankenhauses und des Virchow-Klinik, beide in Berlin, herrühren. Das Augenmerk wird hier auf der Rekonstruktion einer spezifischen wissenschaftlichen Schreibszene liegen. Von Interesse ist der Modus der Aufzeichnung, Aufbau und Gebrauch von Vordrucken, die Eigenheiten bei der Ausfüllung von Vordrucken, Anleitungen zur Abfassung von Protokollen, die Standardisierung der Aufzeichnungsvorgänge und individuelle Formen der Aufzeichnung, sowie die weitere Verarbeitung von Sektionsprotokollen im Rahmen wissenschaftlicher Arbeit. Ein wichtiger Punkt ist, daß sich Sektionsprotokolle von vielen anderen wissenschaftlichen Protokollierungsvorgängen insofern unterscheiden, wie sie in einem strikten Sinne nicht reproduzierbare Phänomene festhalten. In den meisten Fällen ist es allein das Protokoll der Befunde (ergänzt um Laborergebnisse, Präparate, Gewebeschnitte oder -proben), das vom Untersuchungsgegenstand überbleibt.


[BILDNACHWEIS]
Ernst Mach: Notizbuch. Archiv des Deutschen Museums München